Zeitsprung

 

Zunächst einmal hatte ich mich verlaufen und irrte auf gut Glück eine Viertelstunde durch die Gegend. Glücklicherweise fand ich schließlich das Gebäude des Institut Francais wieder, in dem ich schon einmal einen Vortrag gehalten hatte. Der gesamte Häuserblock ist leicht erhöht, so dass die kleinen Querstraßen des Boulevards fast alle als Sackgassen enden, lediglich eine führt zu einer großen Steintreppe. Ich wusste, dass ich über sie das Stadtzentrum erreichen konnte. Auf einmal, als ich etwas weiter die Avenue bemerkte, die dorthin führte, sah ich vor meinen Augen die Kulisse eines alten Viertels entstehen, wie geschaffen für einen historischen Film.

Vor mir erhob sich ein breites Gebäude, das nur aus einem einzigen Stockwerk bestand. Zwischen zwei moderne Kästen eingeklemmt, hatte es keine gemeinsame Frontlinie mit ihnen, es ragte vielmehr um vier oder fünf Meter hervor, und damit auf die Straße. Es bestand aus drei Läden, voneinander jeweils durch die Hofeinfahrt getrennt. Die Einfahrten waren durch Holztüren verschlossen, die schon mehrere Jahrzehnte alt waren, man hatte geradezu den Eindruck, als seien sie eines Abends in den dreißiger Jahren geschlossen worden und seither auch geschlossen geblieben. Über den Türen konnte man noch den Namen der Firma oder des Besitzers lesen: eine Pferdemetzgerei, eine Reinigungsmittelfirma, in der ersten Etage ein Rechtsanwalt. Vielleicht war ich auch schon an diesem Haus vorbeigelaufen, ohne dass mir dies bewusst war.

Diesmal, als ich es bemerkte, einige Sekunden lang, die mir allerdings viel länger vorkamen, als ob sich die Zeit in die Länge gezogen hätte, fuhr kein einziges Fahrzeug vorbei. Lediglich eine alte Dame, schon etwas bucklig, in einen alten, billigen Mantel gehüllt, eine Stofftüte für die Einkäufe in der Hand, schleppte sich am Haus vorbei, wie es andere, denen sie auf frappierende Weise ähnelte, schon vor sehr langer Zeit getan hatten. Ich konnte nicht umhin, hierin einen Hinweis zu sehen, auf die Zeitreise, die ich selbst unternonnen hatte. Plötzlich versperrte mir ein Lieferwagen die Sicht und mein Blick fiel auf eine Gruppe Studentinnen, die gerade auf dem Weg zur Universität waren. Ich konnte mich zunächst nicht von der Stelle bewegen. Ich sagte mir, dass sich das Wunder wiederholen würde, aber, nach einigen Minuten, wurde mir klar, dass hier Außerordentliches geschah. Aber vielleicht hatte ich es auch nur geträumt.

 

 

Bernard Loyal, Auszug aus dem Roman Hotel Dacia, Paris 2015   aus dem Französischen von Hubert Kilgenstein