Das erste Fenster

 

 

 

Ich musste etwa acht gewesen sein oder vielleicht zehn, da brachte mich meine Mutter zu einem Psychologen. Ich nehme an, dass es sich um eine „vorbeugende“ Maßnahme handelte. Vielleicht war das aber damals Pflicht, wie die aromatisierte Milch, die in der Schule verteilt wurde oder jedenfalls wärmstens empfohlen. Die öffentliche Hand wünschte wahrscheinlich, dass die Baby-Boomer gesund an Körper und Geist aufwuchsen. Dieses Unterfangen war lobenswert.

Meine Erinnerung an diese Begegnung mit dem Psychologen ist ebenso verschwommen wie die paar Tintenkleckse, die er auf seinem Löschblatt gerade gemacht hatte und die er mir ohne jegliche Befangenheit unterbreitete. Die erbärmlichen Interpretationen, die ich damit anstellte, stimmten den Psychologen dergestalt, dass er vermutlich an meinem gesunden Menschenverstand zweifelte, und bevor er seine rituellen Aufzeichnungen beendet hatte, sollte ich noch eine Zeichnung machen. Zu welcher Jahreszeit sich diese Szene zutrug, vermag ich nicht mehr zu sagen. Möglicherweise ereignete sie sich an einem schönen Frühlingsnachmittag, als jeder die ersten Momente der Milde bei offenem Fenster zu genießen versuchte. Jedenfalls ging ich daran, ein geöffnetes Fenster zu zeichnen, was mir keineswegs schwerfiel. Wahrscheinlich fügte ich irgendeinen Dekor als Hintergrund hinzu oder auch nicht, das habe ich vergessen.

Hingegen habe ich sofort den Gesichtsausdruck meines Gegenübers bemerkt, der sich von herablassend, bisweilen ja sogar gelangweilt, zu einem leichten Lächeln erhellte. Er erhob langsam seinen Blick zu meiner Mutter, die wortlos zusah, und er nickte deutlich zustimmend mit dem Kopf. Ich verstand, dass ich bei dieser letzten Probe die Zustimmung der Erwachsenen getroffen hatte. Darauf war ich sehr stolz. Bei freier Motivwahl, ein offenes Fenster zu malen, das sollte künftighin von Erfolg gekrönt sein! So mancher berühmte Maler – von Vermeer bis Dali – hat diesen Einfall, schon lange vor mir erfolgreich angewendet.

Jahre später fand ich heraus, dass dieses zur Welt hin offene Fenster, laut Interpretationskatalog der Psychologen, wohl meine Wissbegierde und Entdeckungsfreude offenbarte, sowie die Furchtlosigkeit beim Gedanken, das familiäre Nest zu verlassen. Wie jedoch sind heutzutage all diese geschlossenen Fenster verlassener Häuser zu deuten? Nachdem ich die Welt bereist habe, nicht nur im geographischen Sinn, sondern eher als Ausdruck für das Leben, ist die Zeit gekommen, mich umzudrehen, aber die Häuser die ich sehe, widerspiegeln mir nur noch das verklärte Bild von der Abwesenheit. Von Rosemary Bürkle übersetzt

 

Aus dem Französischen von  Rosemary Bürkle übersetzt